Wir sprechen über Rassismus, Feminismus, Sexismus und Kapitalismus. Aber wer spricht schon in diesem Zusammenhang von Klassismus? „Die Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft und Position bestimmt unsere Gesellschaft grundlegend. Klassismus wirkt schon vor der Geburt und bis über den Tod hinaus. So ist etwa der Zugang zu Bildung oder Gesundheitsversorgung davon geprägt, und selbst die Art, wie wir bestattet werden. Trotzdem wurde Klassismus kaum beachtet“. Das schreibt Francis Seeck ist ihrem neuen Buch „Zugang verwehrt – Keine Chance in der Klassengesellschaft: wie Klassismus soziale Ungleichheit fördert“.
Francis Seeck, 1987 in Ostberlin geboren, ist promovierte Kulturanthropolog*in und Antidiskriminierungstrainier*in. Als Kind einer alleinerziehenden, erwerbslosen Mutter erlebte Seeck schon früh die Auswirkungen der Klassengesellschaft. Sie weiß also, wovon sie redet, wenn sie über Klassismus und sozialer Gerechtigkeit schreibt und lehrt. Sie kennt aus eigener Erfahrung das Gefühl der Scham etwas Verbotenes getan zu haben, wenn ihre Lehrerin sie am nächsten Tag darauf anspricht, dass sie mit ihrer erwerbslosen Mutter in der Pizzeria gesehen worden sei. Das Verbotene, dass die vom Staat bezahlte Sozialhilfe nicht dafür gedacht ist, diese für Pizza auszugeben. Wer erwerbslos ist und von staatlicher Hilfe lebt, muss leiden. Gönnen darf man sich nichts. Denn schließlich ist man ja selbst schuld. Dieses Vorurteil, Seeck spricht hier von Erwerbslosenklassismus, wurde durch die Agenda 2010 im Jahr 2005, mit dem gleichzeitigen Abbau des Sozialstaates, zementiert. Den Erwerbslosen wird vermittelt, sei es von der Gesellschaft oder von den Jobcentern, wer sich nur genügend anstrenge, findet auch einen Job. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Und da könne jeder alles werden. Leistung werde belohnt. Die Realität sieht jedoch anders aus. Die Angst erwerbslos zu werden geht inzwischen bis in die Mittelschicht. Eine Jobgarantie gibt es nicht mehr. Nur viele wissen es nicht. Oder wie Seeck es beschreibt: „Die meisten Menschen aus der Mittel- und Oberklasse kennen niemanden aus der Armutsklasse, oder sie glauben das zumindest – Armut und Erwerbslosigkeit sind oft versteckt“. Dass sehr viele Erwerbslose so wenig verdienen, dass sie ihr Gehalt mit Sozialleistungen aufstocken müssen, geht an der Mittelklasse oft vorbei. Sie gehören zur Klasse der Niedriglöhner, „working poor“, Aufstocker und der Armen. Die Autorin stellt fest, dass das scheinbare Wissen über die Erwerbslosen, gepaart mit entsprechenden Vorurteilen, oftmals aus dem sogenannten Unterschichten-TV oder aus dem Äquivalent in der bürgerlichen Presse gezogen wird. Dort werden die „arbeitslosen, faulen, dreisten“ Menschen gerne als „sozial schwach“ betitelt, die in „sozialen Brennpunkten“ leben, wo besonders viel Kriminalität herrscht.
Klassismus in der Wohnungssuche
Dass von Armut Betroffene aber oftmals nur am Rande einer Stadt überhaupt eine Wohnung finden, das wird dann gerne vergessen. Und wer erwerbslos ist, ist von Wohnungslosenfeindlichkeit bedroht oder betroffen. Wohnraum wird immer knapper und teurer. Es ist gesellschaftlich bedingt, wenn durch Gentrifizierung einkommensarme Menschen aus den Innenstädten vertrieben werden. Und auch hier, wie bei den Erwerbslosen, wird die Schuld den Betroffenen selbst zugeschrieben. Bei allen negativen Zuschreibungen bleiben Wohnungs- und Obdachlose unsichtbar. Erwähnt werden sie, wenn sie von starken Gewalttaten oder gar Morden betroffen sind. Ansonsten sind viel Stadtplaner sehr kreativ, wenn es darum geht, obdachlose Menschen aus den Innenstädten zu vertreiben. Bänke im öffentlichen Raum werden so gebaut, dass es unbequem oder unmöglich ist, darauf zu schlafen. An Bahnhöfen wird in Dauerschleife klassische oder atonale Musik gespielt, in öffentlichen bzw. halb-öffentlichen Räumen, wie Einkaufszentren oder Bahnhöfen wird der Zugang verwehrt. Wer in „Problemvierteln“ wohnt, wer kein Geld hat, weiß, dass die eigenen Kinder auf „Problemschulen“ landen. Der Ruf der Gegend eilt dem eigenen Ruf voraus. Und die Geburt des Kindes ist die Geburt in eine soziale Klasse. Wenn der Nachname dann noch ausländisch klingt, kommt der Rassismus hinzu. Migrantischen oder Familien im Sozialleistungsbezug werden häufig viele Kinder zugeschrieben. Und hier befinden wir uns, nach Seeck, in einem familienpolitischen Klassismus. Erziehungsgeld wurde durch ein einkommensbezogenes Elterngeld ersetzt. Eltern aus der Mittelklasse bekommen Zuschüsse und Zuschläge. Eltern mit Hartz IV wird das Kindergeld dagegen mit dem Regelsatz verrechnet. Sozialleistungsberechtigte sollen lieber keine Kinder bekommen, so die Message.
Zeig mir deine Schule und ich zeige dir wer du bist
Wer unten aufwächst und nicht aus einem akademischen Haushalt kommt, hat viel schlechtere Chancen nach der Grundschulzeit auf ein Gymnasium zu wechseln. Und das nicht unbedingt aufgrund der schulischen Leistung, sondern ihrer Klassenherkunft. Können die Gründe zum Teil an den klassistischen Vorurteilen bei den Lehrern gefunden werden, liegt es auch daran, dass Akademiker-Eltern sich häufig nicht an die Schulempfehlung halten und ihre Kinder trotz allem auf einem Gymnasium anmelden. Das Klassenprivileg muss gesichert werden. Wer schlechtere Noten hat, aber nicht die finanziellen Mittel für Nachhilfe muss auch schauen, wie sie oder er über die Runden kommt. Ein Kind aus der Mittel- oder Oberklasse erhält diese Unterstützung ohne Probleme. Studien gibt es genug darüber, dass Bildung auch vom Geldbeutel abhängig ist. Seeck empfiehlt, um eine Bildungsgerechtigkeit herzustellen, die Ausweitung von Gesamtschulen. Nach der Schule geht der Klassenkampf an der Uni weiter. Statistisch gesehen studieren von 100 Akademikerkindern 79, von 100 Kindern aus Familien ohne akademischen Hintergrund schaffen nur 27 den Sprung an die Hochschule. Bildungspolitik ist für Seeck in ihrer Streitschrift ein ausführlicheres Thema. Sie plädiert dafür, dass die Klassenherkunft nicht mehr für den Zugang zu Bildung ausschlaggebend sein darf. Eine elitäre Definition von Bildung müssen wir infrage stellen und gegen Klassismus an den unterschiedlichen Bildungsschwellen intervenieren.
Klassismus in der DDR
Selbst in Ostberlin aufgewachsen, stellt Seeck die Frage, ob es Klassismus auch in der DDR gab. Schließlich war Marxismus Staatsdoktrin und alle waren Arbeiter:innenklasse. Die Leser:innen werden eines Besseren belehrt. Wer nicht arbeiten wollte oder konnte, landete schnell im sogenannten „Assi-Paragraf“. Neben dem gab es auch eine massive Bildungsungleichheit sowie die Ausgrenzung von Heimkindern. Neben dem Recht auf Arbeit, gab es auch die Pflicht auf Arbeit. Wer eine längere Phase ohne Arbeit hatte, wurde als „arbeitsscheu“ bezeichnet. Nicht genormte Lebensentwürfe, bevorzugte industrielle Arbeit, waren „verdächtigt“. Darunter galten insbesondere Sexarbeiterinnen. Sie wurden stigmatisiert und strafrechtlich verfolgt. Aber auch Bettelei, Wahrsagerei, Landstreicher:innen oder Glücksspiel fielen darunter. Wer durfte in der DDR studieren? Auch, wenn nach 1945 Maßnahmen ergriffen wurden, um Kindern aus bildungsbenachteiligten Familien zu fördern, wurden diese seit den 1960er-Jahren wieder zurückgefahren. Die eigene sozialistische Intelligenz – viele davon selbst in den 1950er-Jahren aufgestiegen – sahen ihre eigenen Felle und die ihrer Kinder davonschwimmen. So wurden Zugänge wieder eingeschränkt. Auch wenn die Einkommensunterschiede gering waren, ein Recht auf Wohnen bestand und günstiger Wohnraum vorhanden war, die Kinderbetreuung gesichert war, gab es einen Klassismus, der jedoch fast ausschließlich aus einer westdeutschen Perspektive diskutiert wird. Seeck fordert eine neue Diskussion, da die Erfahrungen Ostdeutscher mit Klassismus sich in vielerlei Hinsicht von denen Westdeutscher unterscheiden. Sie kritisiert auch den bis heute anhaltenden Klassismus und Ostfeindlichkeit gegenüber Ostdeutschen, der sich auch auf den Arbeitsmarkt bemerkbar macht. Bis heute ist der Anteil Ostdeutscher in gehobenen Positionen gering. Ostdeutsche haben ein erhöhtes Risiko von Armut betroffen zu sein. Lebensbiographien von Ostdeutschen wurden durch Abwertungen ihrer Berufsabschlüsse nach der Wende unterbrochen.
Kapitalismus versus Klassismus
Es verwundert nicht, wenn Seeck am Ende des Buches auf den Kapitalismus zu sprechen kommt. Wer von Klassismuskritik spricht, muss auch von Kapitalismuskritik sprechen. Für sie ist es kein Widerspruch. Für Seeck ist Klassismus eine Form eines Unterdrückungssystems. Sexismus, Rassismus, Transfeindlichkeit, Behindertenfeindlichkeit oder eben Klassismus legitimieren Ausbeutung und soziale Ungleichheit. Wer den Kapitalismus kritisiert, so Seeck, und diese Unterdrückungen ausblendet, blendet gerade jene aus, die besonders prekär beschäftigt, schlecht entlohnt und wenig gewerkschaftlich organisiert sind. Sie fragt sich auch, ob es antikapitalistischen Kämpfen armen Menschen und Arbeiter:innen dient, wenn Klassismus deren Teilnahmen an entsprechenden Gruppen und Protesten verhindert. Beide Kämpfe gehen nur gemeinsam und beides schafft sich nicht voneinander unabhängig ab. Vermutlich dauert es auch zu lange. Stattdessen schlägt sie vor, dass sich materiell arme Menschen und Arbeiter:innen vernetzen, dass sie sich gegenseitig stärken und sich organisieren. Überhaupt plädiert sie dafür, dass wir mehr über Klassismus sprechen. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Gleichzeitig ist der Widerstand gegen soziale Ungleichheit so schwach wie noch nie. Auch das schreibt sie dem Klassismus zu. Wir benötigen einen Bewusstseinswandel, da wir alle in einer Gesellschaft aufgewachsen sind, die von klassistischen Vorstellungen durchzogen ist. Seeck erwähnt in ihrem Buch immer wieder Aktivist:innegruppen von heute und aus den früheren Jahrzehnten mit plastischen Beispielen, wie auf Missstände aufmerksam gemacht werden kann. Sei es von feministischen Gruppen, Mietervereinigungen oder aus der Erwerbslosen- oder Wohnungslosenszene. Sie hat recht, wenn sie eine Vermögenssteuer, eine Erbschaftssteuer und die Erhöhung des Mindestlohns fordert, sich für Gesamtschulen ausspricht, die Abschaffung von Hartz IV und die Aufnahme von sozialer Herkunft und sozialem Status als Kategorie in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verlangt. Das Buch macht unmissverständlich deutlich, dass Klassismus als eine fest in unserer Gesellschaft verankerte Diskriminierung ist. Allerdings sehe ich die Armut nicht nur in der Arbeiterschaft vertreten, sondern auch immer mehr in der Mittelklasse der Angestellten. Dieser Blick hätte dem Buch zusätzlich gutgetan, um hier das Bewusstsein zu schärfen. Wem noch nicht klar ist, dass eine Diskriminierung immer von oben nach unten verläuft, sollte sich dieses Buch zur Hand nehmen. Dann dürfte jedem klar sein, wenn Seeck schreibt: Klassenprivilegien sind das Gegenstück zu klassischer Diskriminierung und sie sollten in der Debatte um Klassismus gleichermaßen thematisiert werden“.
Francis Seeck: Zugang verwehrt
Atrium Verlag
ISBN: 978-3-85535-128-2
Taschenbuch, 9,30 Euro