In einem Interview mit „Welt am Sonntag“ sprach sich Detlef Scheele (SPD), Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit, für eine flexiblere Beratung innerhalb der Jobcenter aus. Scheele:

„Bisher galt die strenge Regel, dass Vermittlung in Arbeit in jedem Fall Vorrang vor Qualifizierung hat. Das bedeutet, dass die Jobcenter-Mitarbeiter den Betroffenen bisher in einen Job vermitteln mussten, auch wenn es vielleicht sinnvoller gewesen wäre, ihm einen Schulabschluss oder eine Ausbildung zu ermöglichen.“

So weit, so gut – dazu später mehr.

Weiter führt er aus:

„So sah es das Gesetz vor. Künftig können die Vermittlerinnen und Vermittler entscheiden, ob es nicht sinnvoller ist, die Betroffenen tatsächlich in eine Bildungsmaßnahme zu schicken, in der sie einen Berufsabschluss machen, anstatt ihn um jeden Preis sofort in Arbeit zu bringen. Das wird die langfristigen Berufschancen vieler Grundsicherungsempfänger verbessern, gerade bei den Un- und Angelernten.“

In den nächsten Tagen werden die Jobcenter eine entsprechende neue Weisung dazu erhalten, so Scheele weiter.

Das Sozialgesetzbuch II (Hartz IV) agiert bekanntermaßen nach dem Prinzip „Fördern und Fordern“. Dass inzwischen das „Fordern“ mit großem Abstand vor dem „Fördern“ steht, ist eine große Kritik von Sozialverbänden, aus Teilen der Politik, Wissenschaftlern, Initiativen und Betroffenen. Gerade die sind es, die statt einer Förderung mit häufig unpassenden Arbeitsvorschlägen oder sinnlosen Maßnahmen überschüttet werden. Wenn sich Scheele nun auf das Gesetz beruft, dass die Vermittlung in Arbeit in jedem Fall Vorrang vor Qualifizierung hat, beruft er sich auf die „Aufgabe und Ziel der Grundsicherung für Arbeitsuchende“ gleich zu Beginn des Sozialgesetzbuches II. Hier wird explizit auf die Erwerbstätigkeit eingegangen, wo die Hilfebedürftigkeit so schnell wie möglich vollständig – oder zumindest teilweise – beendet werden soll. Die Bundesagentur für Arbeit formulierte daraus ihre erste interne Eingliederungsleistung unter dem Namen: Sofortangebot. Und das oftmals, bevor überhaupt der Antrag auf Hartz IV bearbeitet wurde. Das Sofortangebot kann eine Arbeitsstelle, ein Ein-Euro-Job oder das standardmäßige Bewerbungstraining sein. Ein-Euro-Jobs oder Trainingsmaßnahmen haben primär den Vorteil, dass die Neumeldungen im Jobcenter erst mal nicht in der kommenden Arbeitslosenstatistik auftauchen. So werden diese als arbeitsuchend und nicht als arbeitslos registriert. Das Vermittlungsangebot für eine Arbeitsstelle wird als Service angepriesen, der über die gesetzlichen Regelungen hinausgeht. Als Verkaufsargument wird dabei der Beratungs- und Vermittlungsprozess im Sinne der Erwerbslosen angeführt. Sozusagen als Bonus durch die Jobcenter. Ob das zuvor stattgefundene Profiling der Arbeitsuchenden tatsächlich umgesetzt wird, hängt von der jeweiligen Sachbearbeitung ab. Auf jeden Fall wird somit das Soll der Erstgespräche und Sofortangebote intern erfüllt. Frei nach dem Motto: Stimmt die Quote, stimmt das Angebot.

Aber was sagt das Sozialgesetzbuch II tatsächlich zum „Sofortangebot“? Hier gilt der ehemals gültige §15a. Anfang August 2006 lautete der Grundsatz:

„Erwerbsfähige Personen, die innerhalb der letzten zwei Jahre laufende Geldleistungen, die der Sicherung des Lebensunterhalts dienen, weder nach diesem Buch noch nach dem Dritten Buch bezogen haben, sollen bei der Beantragung von Leistungen nach diesem Buch unverzüglich Leistungen zur Eingliederung in Arbeit angeboten werden.“

Genau acht Jahre später in 2016, im Rahmen der sog. „Rechtsvereinfachungen“ wurde dieser Grundsatz aufgehoben. Allerdings nicht innerhalb der Jobcenter, wenn Scheele davon spricht, dass er darüber eine neue Weisung auf den Weg bringen möchte. Somit haben die Jobcenter nun fast zwei Jahre die Aufhebung ignoriert. Dass nun Scheele mit dem Bundesarbeitsministerium ein Gesetz ändern möchte, was bereits geändert ist, wirkt konfus. Dasselbe gilt für den Schulabschluss. Auf diesem haben bereits seit Beginn 2009 junge Menschen und Erwachsene ohne Schulabschluss einen Rechtsanspruch auf „die Förderung der Vorbereitung zum nachträglichen Erwerb des Hauptschulabschlusses oder eines gleichwertigen Schulabschlusses“. Bereits mit der Entstehung der Jobcenter 2005 gab es einen „Leitfaden für arbeitsuchende Jugendliche unter 25 Jahren“, der u.a. den Fokus auf junge Menschen ohne Ausbildung legte. So hieß es:

„Im Fokus steht die Überwindung der Hilfebedürftigkeit, insbesondere durch die Integration in Beschäftigung. Sind Hemmnisse abzubauen, ist immer auch der Qualifizierungsaspekt zur Verbesserung der beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten der Jugendlichen zu berücksichtigen. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um Jugendliche ohne Berufsabschluss handelt.“

Die Berücksichtigung der individuellen persönlichen und beruflichen Situation der jungen Menschen galt als selbstverständlich. Nun könnte man meinen, Scheele erzählt etwas bahnbrechendes Neues. Dem ist aber nicht so. Vielmehr wiederholt er Forderungen, die in den letzten 12 Jahren innerhalb der Jobcenter stückweise komplett verloren gegangen sind.

Auch wenn die neue versprochene Fachliche Weisung vom heutigen Tag schreibt, dass:

„Der Grundsatz, dass vorrangig Maßnahmen eingesetzt werden sollen, die die unmittelbare Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ermöglichen (§ 3 Abs. 1 Satz 3 SGB II), gilt weiterhin. Bei der Entscheidung über diesen Maßnahmeeinsatz ist jedoch abzuwägen, ob nicht das Interesse am Erwerb eines Berufsabschlusses für eine nachhaltige Integration und das künftige Vermeiden von Arbeitslosigkeit ggü. einer unmittelbaren Erwerbstätigkeit (im Helferbereich) überwiegt.“

bleibt die Ermessensleistung als Kann-Bestimmung durch die Integrationsfachkraft (Arbeitsvermittlung) bestehen:

„Bei der Teilnahme an einer FbW (Anm.: Förderung beruflicher Weiterbildung) handelt es sich um eine Ermessensleistung. Die IFK (Anm.: Integrationsfachkraft) entscheidet darüber, ob die Leistung zur Eingliederung der/des eLb erforderlich ist.“

Diese Fehl- und Rückentwicklung ist nicht nur beim Sozialgesetzbuch zu suchen. Vielmehr hat sich innerhalb der Jobcenter ein eigener Automatismus entwickelt, der genau diese Förderungen komplett aus den Augen verloren hat. Autonomie durch die Bundesagentur für Arbeit führte dazu, dass das Sozialgesetzbuch II oftmals nicht mehr als Makulatur ist und somit gesetzeswidrig angewandt wird. Scheele’s Aussagen sind verwirrend und täuschen darüber hinweg, dass die Umsetzung bereits möglich ist und bewusst stückweise ignoriert wird. Jede Integrationsfachkraft, die individuell berät, begleitet, sinnlose Maßnahmen und den zwanghaften Trieb der Vermittlung in irgendeine Arbeit an sich vorbeirauschen lässt, agiert rechtskonformer als das Handeln nach Weisungen durch die Bundesagentur für Arbeit. Hierüber sollte sich Scheele Gedanken machen und entsprechend aufklären. 
Zeit wird es.

Weitere Infos:

Gesetzesveränderungen SGB II: buzer.de

Handbuch Neukundenprozess SGB II (März 2010)