„Bild“ am frühen Morgen: „Fast 500.000 Hartz-IV-Sanktionen im 1. Halbjahr“. Weiter geht es mit: „Die Jobcenter haben im Juni so viele Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger verhängt wie seit April 2015 nicht mehr“.
Nun gut. Wir kennen „Bild“ und deren übertriebenen Journalismus. Korrekt ist, dass im Juni des Jahres mehr Sanktionen in den Jobcentern ausgesprochen wurden. Auch in den Jahresvergleichen bereits vor April 2015. Dass die 19,4 Prozent des Anstiegs zum Vormonat (übrigens ist damit Mai 2017 gemeint) auch nicht ganz richtig berechnet wurde: Schwamm drüber.
Schaue ich mir die Statistik doch mal genauer an. Die sog. „gleitende Jahressumme“ beträgt im September 957.428 Sanktionen. Eine Zahl, die sich vom September des Vorjahres bis aktuell berechnet. Damit liegt sie bereits höher als die Jahressumme 2016 von 939.133. Bleibe ich nun im erwähnten Zeitraum der ersten sechs Monate von „Bild“ wurden durchschnittlich monatlich 79.231 Sanktionen ausgesprochen. Im selben Zeitraum ein Jahr zuvor lag der Schnitt bei 76.182. Somit ist durchaus ein Anstieg zu beobachten. Und ich gehe davon aus, dass die Gesamtsanktionen in 2017 die Millionengrenze knacken wird. Ein Grund zum Feiern ist dieses nicht.
Ist die „Bild“-Meldung nun ein Kommentar wert? Durchaus. Erneut der Blick in die Sanktionsstatistik der Bundesagentur für Arbeit. Auf Seite 1 lesen wir, dass die durchschnittliche Kürzung 109 Euro beträgt. Auf Seite 2 können wir evaluieren, dass die sog. „Meldeversäumnisse“ seit 2007 jährlich steigen. So versäumte vor zehn Jahren jeder Zweite einen Termin im Jobcenter. Heute sind es mehr als drei Viertel (77,3 %), die aufgrund eines nicht wahrgenommenen Termins eine Sanktion erhalten. Pro versäumten Termin sind das jeweils zehn Prozent von der Regelleistung in Hartz IV. Dagegen sinkt die Quote bei Verstößen, weil man die Pflichten einer Eingliederungsvereinbarung (Vertrag zwischen Jobcenter und Leistungsberechtigten) nicht erfüllte. Waren es in 2007 noch 17,5 Prozent sind es in der „gleitenden Jahressumme“ 9,4 Prozent. Fast linear dazu sank auch die Weigerung eine bestimmte Arbeit, Ausbildung oder Maßnahme anzutreten. In 2007 waren es 23 Prozent, heute sind es zehn Prozent. Aber auch dieses ist kein Grund zum Feiern. Und im Grunde genommen könnte man doch „Bild“ ignorieren, wenn da nicht wäre …
… das Bild des „faulen, schmarotzenden Hartzers“, an dem „Bild“ nicht schuldlos ist. Ich könnte es nun auch umdrehen und „Bild“ so verstehen, dass die bösen Jobcenter sich in Sanktionswut befinden. Beides sind Negativbilder. Und damit stelle ich erneut die grundsätzliche Frage, warum ein Staat sich die Freiheit herausnimmt, mündige Menschen mit Maßregelungen und Bestrafungen erziehen zu wollen? Vergessen wird dabei, dass der eigentliche Bedarf trotzdem besteht und zwar unverändert. Diesen Bedarf müssen sich somit die Leistungsberechtigten sozusagen „verdienen“ und sich dem Erziehungsgedanken der Bundesagentur für Arbeit beugen.
Als legitimierten Arm agieren weiterhin die Jobcenter, was einer schwarzen Pädagogik entspricht. Und damit orientiert sich die Höhe des Arbeitslosengeldes II an ein bestimmtes Verhalten, welches zumeist den Vorstellungen der Jobcenter entsprechen muss. Dabei wird schon mal vergessen, dass die Vorstellungen der Jobcenter weit weg von der Realität der Menschen, die ihnen gegenüber sitzen, entfernt sind. Mit einer Sanktion verschwindet das unverfügbare Existenzminimum und dient damit einzig allein der Bestrafung.
Mantramäßig werde ich damit konfrontiert, dass es doch nicht so schlimm sei Termine im Jobcenter wahrzunehmen. Schließlich muss man als ArbeitnehmerIn ebenso bei der Arbeit erscheinen und Hartz IV entspreche einem Lohn. Da die Jobcenter weder Arbeitgeber sind, noch Hartz IV einem Lohn gleichzusetzen ist, lehne ich diese Argumentation ab. Das Arbeitslosengeld II ist eine soziale Absicherung, wenn die Erwerbstätigkeit verloren ging und das Arbeitslosengeld I (Agentur für Arbeit) ausgelaufen ist. Einfach ausgedrückt: Ein Existenzminimum. (Leider) nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Weigerung eine Tätigkeit, Ausbildung oder Maßnahme anzunehmen ignoriere ich bewusst. Dafür ist die Zahl derer zu gering. Die Gründe dafür sind bekanntermaßen vielfältig.
Im Grundgesetz der Bundesrepublik ist in Art. 20 Abs. 1 das Sozialstaatsprinzip zu finden. Über seine Einhaltung soll das Bundesverfassungsgericht wachen. In zwei bedeutenden Entscheidungen (im Februar 2010 zu Hartz IV und im Juli 2012 zum Asylbewerberleistungsgesetz) hat es ein Menschenrecht auf ein Minimum staatlicher Leistung konkretisiert. Das Existenzminimum umfasst den unbedingt notwendigen Bedarf eines Menschen zum physischen Überleben sowie zur Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben.
Der gegenwärtige Sozialstaat und die Jobcenter fungieren als ein paternalistischer Erziehungsstaat, der seine Leistungsberechtigten zum gesellschaftlichen Wohlverhalten antreibt – und sei es mit Sanktionen. Sanktionen oder deren Androhung führen weiterhin in der Regel nicht zu einem positiven Effekt, sondern eher zu einer Spaltung zwischen der Zusammenarbeit des Betroffenen und Jobcenter. Der Kontakt wird abgebrochen, die Betroffenen entziehen sich der administrativen Betreuung und entschwinden so aus der Statistik. Ein positiver Arbeitsmarkt statistischer Nebeneffekt und vielleicht auch ein gewollter. Energie, Zeit und zum Teil Gesundheit müssen aufgewendet werden, um den Überlebenskampf, welcher durch Sanktionen hervorgerufen wird, zu schaffen. Von einer sozialen Inklusion kann hier nicht gesprochen werden, sondern vielmehr von einer sozialen Exklusion, deren individuellen, und gesellschaftlichen negativen Effekte kaum absehbar sind. Und alleine aus diesen Gründen ist jede Sanktion eine zu viel und verstößt für mich weiterhin gegen die absoluten, unabdingbaren Rechte des Menschen: Menschrechte und Menschwürde.
Sanktionen gehören sofort abgeschafft!
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