Sehr geehrter Herr Scholz
Ich beziehe mich auf die Sendung vom 27. August 2017 „Anne Will – Wahlkampfthema soziale Gerechtigkeit – Malt Rot-Rot hier schwarz?“.
Zunächst war ich froh, in einem tiefen Sessel gesessen zu haben, damit ich nicht so tief gefallen wäre. Aber irgendwie habe ich es geschafft mich darin zu halten. Auch wenn es für mich persönlich sehr schwer war. Gerne erläutere ich es.
Sie selbst bemerkten zu Beginn, dass es nicht für alle die „soziale Gerechtigkeit“ gebe und zählen ab Minute 3:20 die klaren Missstände auf: 40 Prozent der Beschäftigten im unteren Lohnbereich, Mietenexplosion, magere Rentenbescheide, Kitagebühren oder einen fehlenden Ausbildungsplatz. So weit, so gut. Es gibt immer ein Haben und ein Soll. Und trotzdem schreibe ich Ihnen einen offenen Brief.
Herr Scholz, Sie leben an der Realität vorbei und tun dieses bewusst. Es ist Ihnen überhaupt nicht daran gelegen der Realität ins Auge zu sehen und für „soziale Gerechtigkeit“ zu sorgen. Nun ist dieser Begriff weitläufig und wie Sie, als auch die neoliberalen-wirtschaftsabhängigen PolitikerInnen gerne argumentieren: Subjektiv. In meinen Augen ist Reichtum subjektiv. Manche fühlen sich mit 3.000 Euro netto arm, manche reich. Armut ist jedoch tatsächlich. Wenn im bundesweiten Durchschnitt rund 690 Euro Sozialleistungen (Hartz IV) zur Verfügung stehen, von denen die Miete ebenso bezahlt werden muss, ist der Geldbeutel oder das Konto faktisch leer. Über sechs Millionen Menschen sind vom Hartz-IV-Regime abhängig. Davon rund 1,7 Millionen Kinder (Quelle: Bundesagentur für Arbeit – Stand Juli 2017). Die Zahl der LeiharbeiterInnen stieg signifikant mit der Einführung der Agenda 2010 an. Derzeit liegt diese Zahl bei knapp 1 Million, was ein Anstieg zu 2005 um 252 Prozent ist. Ich könnte Ihnen nun weitere Zahlen auflisten. Aber, was soll’s. Diese kennen Sie ganz genau. Und trotzdem behaupten Sie, der Niedriglohn sei nicht politisch eingeführt wurden.
Die Agenda 2010, Sie als ehemaliger Arbeitsminister, Ex-Bundeskanzler Schröder, eine SPD, die sich bis heute für die Agenda 2010 auf die Schulter klopft – all dieses ist nicht politisch gewollt? Die Muppet-Show hätte es nicht besser darstellen können. Und weil alles nicht wahr sein darf und die Argumente, die Einsicht fehlt, wird mal schnell die Keule der Verschwörungstheorie rausgeholt. Ganz ganz armselig. Als in der Vergangenheit gehandelter Kanzlerkandidat eine diskussionsentwürdigende Darstellung. Allerdings wäre so schnell klar gewesen: Mit der SPD wird und kann es keine „soziale Gerechtigkeit“ geben. Der derzeitige Schulzzug eiert noch vielmehr herum. Oder sind Sie gar Schulz in den Rücken gefallen? Hoppla, Verschwörungstheorie.
In meinem Buch (auch ich kann Werbung platzieren) habe ich geschrieben:
„Hartz IV polarisiert, spaltet unsere Gesellschaft und ist ein zutiefst inhumanes System. Es ist voller Widersprüche und entmündigt die Menschen und deren Angehörige in der Bedarfsgemeinschaft. Menschen, die zuvor in der Gesellschaft integriert waren, werden stigmatisiert, gedemütigt und entrechtet.“
Nun ergänze ich, dass Sie Herr Scholz polarisieren, unsere Gesellschaft mit Ihren Aussagen spalten und den sozialen Frieden gefährden. Man kann leicht von einer gut gehenden Gesellschaft sprechen, wenn man auf der sicheren Seite unserer gespaltenen Gesellschaft steht. Der über die Jahre tatsächliche minimale Rückgang der Arbeitslosigkeit ist teuer erkauft. Nicht für die Regierung und Wirtschaft, sondern für ArbeitnehmerInnen im Prekariat. Die einstmals geltende Norm, wer arbeitet, sein Auskommen selbst verdienen kann, gilt nicht mehr. Mit Reden, wie Ihrer, ist den von Armut oder Niedriglohn betroffenen Menschen nicht geholfen. Sie sind abgekoppelt. Es ist zynisch, respektlos und entwürdigend. Und Sie sitzen hoch erhaben bei Anne Will und sind der festen Meinung, dass sei alles falsch? Was muss mit einem Menschen geschehen, um dieses immer wieder und immer wieder so zu vertreten? Sie leben in Altona. Einem Bezirk, in dem die Armut deutlich sichtbar ist, in dem die Flaschensammler die Papierkörbe durchwühlen und die Jugendarbeitslosigkeit zum Himmel schreit. Vielleicht versteckt, verdeckt und durch die Statistiken verschwiegen. Und doch ist all dieses vorhanden.
Bisher hatte ich gehofft, oder mir selbst vorgegaukelt, Sie erleben irgendwann die Realität und erkennen diese. Diese Hoffnung oder den Wunsch habe ich nun endgültig begraben. Weder mit Ihnen, noch mit der SPD ist „soziale Gerechtigkeit“ zu machen. Wahlkampf hin oder her. Ob nun CDU oder SPD: Es bleibt ein ekelhaft schmeckender Brei. Wohl bekomms.
Mit hoffnungslosen Grüßen
Inge Hannemann