Armut kennt viele Gesichter. Machen die einen Armut am Einkommen fest, so beginnt für andere die Armut bei Obdachlosigkeit oder Flaschensammeln. So gelten Menschen als arm, die 60 Prozent oder weniger des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Bei Alleinstehenden liegt die Armutsschwelle bei 942 Euro, bei Familien mit zwei Kindern bei 1978 € netto im Monat. Jüngst hat der Gesamtverband des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ihren Armutsbericht in Berlin vorgestellt. Der Paritätische legt Zahlen des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2015 zugrunde. Diese stammen aus der sogenannten kleinen Volkszählung, dem Mikrozensus.

Demnach hat die Armutsquote in Deutschland einen neuen Höchststand erreicht. Fast 13 Millionen Menschen in Deutschland sind arm. “Deutschland hat mit 15,7 Prozent Armutsquote leider einen neuen Rekordwert seit der Wiedervereinigung erreicht“, sagt der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider. Am wenigsten arm sind die Menschen in Bayern und Baden-Württemberg. Hier betrug die Armutsquote 11,6 Prozent bzw. 11,8 Prozent. Die Ärmsten leben in Berlin und in Bremen. Hier ist jeder vierte Haushalt von Armut betroffen. Hamburg liegt mit 15,7 Prozent im deutschlandweiten „Trend“, aber weiterhin auf dem hohen Niveau des Vorjahres (15,6 Prozent). Damit ist fast jeder sechste Hamburger Haushalt von Armut gekennzeichnet. Betroffen sind vor allem Alleinerziehende, Kinder, Erwerbslose und Senioren. Eine positivere Entwicklung gab es bei Familien mit drei und mehr Kindern. Hier ist das Armutsrisiko deutlich gesunken und ist innerhalb von zwei Jahren von über 40 Prozent auf 30 Prozent gesunken. Bei den Rentnern ist es dagegen stark gestiegen. Die Quote hat sich innerhalb der letzten zehn Jahre von 5,9 Prozent auf 13,6 Prozent mehr als verdoppelt.

Der Armutsbericht muss alarmieren. Auch, wenn gerne damit argumentiert wird, dass es rund 85 Prozent der Menschen in Deutschland gut gehe. Trotz, oder gerade, weil es der Wirtschaft gut gehe, nimmt der Anteil der armen Menschen zu, und eben nicht ab. Wenn Betroffene, trotz Arbeit, aufstockende Sozialleistungen beziehen, Dauergäste bei der Tafel sind oder sich aus Scham in ihren eigenen vier Wänden verkriechen, zeigt das die soziale Ungleichheit zwischen der Mehrheit der Gesellschaft und denen, die um das tägliche Versorgen kämpfen müssen. Selbst bei abnehmender Arbeitslosenquote, steigt die Armutsquote gerade in diesem Bereich stetig an. Dieser Trend darf nicht ignoriert werden. Ein Patentrezept scheint es nicht zu geben. Armutsberichte sorgen kurzweilig für Aufregung. Es wird polarisiert, negiert und gerät dann in Vergessenheit. Der Anblick von Flaschensammlern gehört inzwischen zum Alltag und scheint immer mehr ein gewohntes Bild zu werden. Im Herbst stehen Bundestagswahlen an. Die SPD sucht ihre Wurzeln und setzt derzeit die Soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt. Dieses dürfte zumindest bis zum Herbst ein Thema bleiben. Gleichzeitig ist es eine Chance die Debatte über die Armutsbekämpfung ernsthafter zu betreiben. Dabei darf die bestehende Armut nicht als Polarisierung auf Kosten der Betroffenen ausgetragen werden. Hinter jeder Armut steht die Menschenwürde. Oder wie der Paritätische schreibt: „Menschenwürde ist Menschenrecht.“

Wenn das ehrenamtliche Engagement der Tafeln durch die Politik gelobt wird, ist es ein herumdoktern an den Symptomen, aber keine Ursachenbekämpfung. Vielmehr zementiert es die Armut. Eine tatsächliche Armutsbekämpfung muss sich auf die unterschiedlichsten Gruppen beziehen. Dazu bedarf es eine jeweilige Analyse und draus als Folge passgenaue Programme. So schreibt der Paritätische bei den Alleinerziehenden davon, dass sich die steigenden Kosten nach einer Trennung oder Scheidung, fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten sowie die unzureichende Ausgestaltung monetärer familienpolitischer Leistungen für Alleinerziehende auf die Einkommensverhältnisse auswirken. Ähnlich sieht es bei den Erwerblosen aus. Durch die Agenda 2010 fand eine Stigmatisierung statt, die bis heute anhält. Für die nicht vorhandenen ausreichenden Arbeitsplätze werden die Erwerbslosen „schuldig gesprochen“. Die damit verbundene Einführung des größten europäischen Niedriglohnsektors führt zu aufstockenden Sozialleistungen und zwangsläufig auf Dauer in die Altersarmut. Bis heute wird der Hartz-IV-Satz auf einen Warenkorb berechnet, der nicht die Realität ist und viel zu niedrig berechnet wurde.

Ein Patentrezept kann auch ich nicht aus dem Hut zaubern. Eine sanktionsfreie Mindestsicherung und eine Mindestrente in Höhe von 1.050 Euro (plus regionale Anpassungen über Wohngeld) sind ein Anfang. Die Agenda 2010, mit all ihren negativen Folgen, muss komplett zurückgenommen und ein neues Arbeitslosensystem hergestellt werden. Armut, Erwerbslosigkeit, Hartz IV, Obdachlosigkeit oder Flaschensammler sind keine Themen, mit denen man sich beliebt macht. Zeigen sie doch auf, dass etwas in der Gesellschaft nicht stimmt. Viel einfacher ist es eben Schuldzuweisungen entsprechend auf die marginalen Gruppen zu verfrachten und sich damit der Verantwortung zu entziehen. Warnrufe durch linke Politik, Sozialverbänden, Vereinen und Betroffenen gibt es mehr als genug. Gehört werden sie. Das tatsächliche Wahrnehmen steht auf einem anderen Blatt. Und hier tut die Politik gut daran, diese Warnrufe, die bestehenden Analysen zu hören, zu lesen und eine Anti-Armutsstrategie und Konzepte zu entwickeln. Und wer über Armut spricht, muss auch über Reichtum sprechen. Auch über den Herbst hinaus.