Arm trotz Arbeit.“ Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Fast jeder zehnte Erwerbstätige war demnach im Jahr 2014 in Deutschland zwischen 18 und 64 erwerbsarm. „Working poor“ ist in ganz Europa anzutreffen; allerdings stieg die Erwerbsarmut in den vergangenen Jahren in Deutschland am stärksten an.

Die Studie vergleicht die Auswirkungen unterschiedlicher arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Instrumente auf Erwerbsarmt zwischen 18 EU-Mitgliedsstaaten. Von Erwerbsarmut wird gesprochen, wenn Menschen mit weniger als 60 Prozent des mittleren Medianeinkommens auskommen müssen. In Deutschland liegt die Armutsschwelle derzeit bei rund 11.800 Euro netto für eine alleinstehende Person. Bei einer Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren beträgt sie 24.800 Euro. Der Anteil der „Armut trotz Arbeit“ betrug in der EU durchschnittlich rund zehn Prozent. Dabei weist Rumänien mit rund 19 Prozent (18,6%), gefolgt von Griechenland mit rund 13 Prozent (13,4%) und Spanien mit 13,2 Prozent den höchsten Anteil aus. Finnland (3,8%), die Tschechische Republik (4%) und Belgien (4,5%) haben die geringsten Erwerbsarmutsquoten. Deutschland lag mit 9,6 Prozent genau im Durchschnitt der EU-Länder.

„Der deutsche Fall ist dabei besonders bemerkenswert. Deutschland weist mit Abstand den höchsten Zuwachs an Erwerbsarmut auf“, so die Forscher.

So habe sich die Erwerbsarmutsrate zwischen 2004 und 2014 verdoppelt und gleichzeitig sei die Beschäftigungsrate im Vergleich mit am stärksten angestiegen, kommentiert die Studie weiter. Demnach sei Arbeit keine Garantie für weniger Erwerbsarmut. Insbesondere dann nicht, wenn Niedriglöhne oder eine niedrige Wochenarbeitszeit den Arbeitsalltag beherrschen. Das Armutsrisiko sinke mit der Zunahme weiterer Einkommen von Haushaltsmitgliedern.

Eine weitere Ursache, dass Deutschland den höchsten Zuwachs an Erwerbsarmut aufweise, begründen die Wissenschaftler mit der Zunahme atypischer Beschäftigung, wie Teilzeitarbeit, häufig im Dienstleistungsbereich und im Niedriglohnsektor. Gerade die Erwerbslosen seien durch die Jobcenter oder auch Arbeitsagenturen dazu verpflichtet, Tätigkeiten im Niedriglohnsektor, unter Sanktionszwang, anzunehmen. Auch dann, wenn sie nicht ihren Qualifikationen entspräche. Zwar, so die Studie weiter, reduziere sich damit die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I und II, führe jedoch zu einer Verschlechterung der Beschäftigungsqualität. Parallel dazu wurden die Gelder zur Qualifizierung der Bundesagentur für Arbeit gekürzt. Untersuchungen des Institut für Arbeitsmarkt- und Bildungsforschung (IAB) haben ergeben, dass Umschulungen eine deutliche höherer Wahrscheinlichkeit aufweisen, sozialversicherungspflichtig beschäftigt zu sein, als ohne.

Ähnliche Effekte zur Reduzierung von Erwerbsarmut beschreibt die Studie, wenn die Jobcenter Erwerbslose entsprechend ihren Qualifikationen vermitteln. Aktive Arbeitsmarktpolitik, die den Workfare-Ansatz im Fokus hat, führt unweigerlich zu armen ArbeitnehmerInnen und Haushalten. Hier schließen sie auch die restriktiven Zumutbarkeitsregelungen sowie die Sanktionen ein. Ihrer Ansicht nach lässt sich Erwerbsarmut nicht mit Lohnsenkungen und dem Abbau von Transferleistungen bekämpfen. Vielmehr lassen diese Mittel die Armut steigen. Als eine wirkungsvolle Gegenmaßnahme schlagen sie soziale EU-Mindeststandards vor, von denen Mitgliedstaaten nur nach oben abweichen dürften und die im Rahmen der jeweiligen nationalen Systeme umzusetzen wären. Weiterhin fordern sie angemessene und existenzsichernde Arbeitsverhältnisse und den Ausbau von Qualifikationen und zertifizierten Weiterbildungen. Die derzeitige Sanktionspraxis sollte abgeschwächt und die Zumutbarkeitsregelungen in Hartz IV entschärft werden. Gleichzeitig sollen die Arbeitslosengeld-II-Regelsätze auf der Basis eines transparenten Verfahrens zur Bestimmung des soziokulturellen Existenzminimums überprüft werden.

Dazu Hannemann: „Dass die Studie erkennt, dass eine vorrangig schnelle und kurzfristige Vermittlung in Arbeit durch die Jobcenter und Arbeitsagenturen in die zwangsweise Armut führen kann und führt und dieses kritisiert wird, ist schon mal ein Vorwärtsschritt. Allerdings widerspricht diese Vorstellung den sog. Zielvereinbarungen und den damit verbundenen Sollzahlen von Vermittlungen durch die Bundesagentur für Arbeit. Und solange diese in diesem Maße bestehen, ist es kaum möglich und noch weniger gewollt, Erwerbslose entsprechend ihren Qualifikationen und existenzsichernd zu vermitteln. Dem gegenüber stehen ebenso die Sanktionen, die nicht vorhandenen auskömmlichen Arbeitsplätze sowie die Bezuckerung der Arbeitgeber, in dem billige Arbeitskräfte mit (Sanktions)- Druck vermittelt werden.“

Weitere Infos:

Böckler Impuls 12/2017

IAB: „Arbeitslose profitieren von Qualifizierungen“