An dieser Stelle möchte ich über meine Eindrücke vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am 15. Januar 2019 und über die Frage, ob Sanktionen beim Arbeitslosengeld II (Hartz IV) erfolgversprechend in eine dauerhafte Arbeitsmarktintegration sind, berichten.
Ursprung der Anhörung
Vorausgegangen war ein Fall, in dem das Jobcenter einem Erwerbslosen den Regelsatz um 60 Prozent gekürzt hatte, weil dieser ihm angebotene Tätigkeiten als Lagerhelfer und Probearbeit im Verkauf nicht angenommen hatte. Aufgrund dessen blieben von den rund 400 Euro Hartz IV schlussendlich nur noch 156 Euro zum Leben übrig, zuzüglich der Mietkosten. Der Fall wurde dem Sozialgericht Gotha vorgelegt und es daraufhin das Bundesverfassungsgericht anrief. Nachdem das Sozialgericht Gotha im ersten Anlauf eine Absage aufgrund eines Formfehlers erhielt, wurde eine zweite nachgebesserte Vorlage nach Karlsruhe versandt. Das Gothaer Sozialgericht stellte dem Bundesverfassungsgericht die Frage, ob Sanktionen nach dem Sozialgesetzbuch II verfassungsgemäß sind.
Jobcenter können Geldkürzungen aussprechen, wenn ein Termin nicht wahrgenommen wird, eine Arbeit oder eine Trainingsmaßnahme abgelehnt werden. Im Jahr 2018 wurden rund 1 Million Sanktionen durch die Jobcenter verhängt. Mehr als drei Viertel betreffen nicht wahrgenommene Termine in den Jobcentern oder beim ärztlichen Dienst. Die durchschnittliche Kürzung betrug dabei 110 Euro.
Führen Sanktion in eine dauerhafte Arbeitsmarktintegration?
Bei der Anhörung ging es, neben Sanktionen, auch um die Frage, inwieweit dieses Mittel für eine dauerhafte Arbeitsmarktintegration geeignet ist.
Ab 9 Uhr begann bereits vor dem Bundesverfassungsgericht der Aufbau diverser Kundgebungen. Aus Berlin reiste die „Kreuzaktion“ an, die an vielen Kreuzen Geschichten von Hartz-IV-Betroffenen und deren Todesfälle darstellen. Weiterhin waren die Partei für das Bedingungslose Grundeinkommen, DIE LINKE. Karlsruhe, VertreterInnen der „aufstehen“ Bewegung und SEK Kassel vor Ort. Als Einzelaktivisten kamen das Team um Ralph Boes mit einem Pavillon und Burkhard Tomm-Bub mit zahlreichem erstellten Infomaterial über Hartz IV. Die Medien schrieben von rund 40 Teilnehmern. Dieses korrigiere ich auf über 100+, da sich sehr viele bereits vor Beginn der Anhörung im Gerichtssaal befanden. Dieser wiederum war mit durchgezählten 185 Personen voll besetzt. Trotz des ungemütlichen Wetters waren VertreterInnen der Kundgebungen jederzeit vor Ort, um Passanten oder den Medien umfängliche Auskünfte zu erteilen. Dieses Interesse war zahlreich vertreten. Auf Nachfrage bei einem Polizisten, ob es üblich sei, dass diese so stark vertreten sind, erhielt ich die Antwort: „Das ist aus Sicherheitsgründen durchaus üblich, allerdings hat er selbst noch nie erlebt, dass eine so große Kundgebung vor dem Gericht stattfand“ (sic!). Die Kundgebung verlief friedlich, sachlich und war geprägt von der Stimmung, dass das Bundesverfassungsgericht eine Änderung im derzeitigen System herbeiführen wird. Auch, wenn ich mit einigen Teilnehmern sprechen konnte, waren es nicht so viele Gespräche, wie ich gerne geführt hätte. Das gab die Zeit leider nicht her.
Die Rolle des Vorsitzenden und des „hohen Senats“
Komme ich zum Verfahren. Im Vorfeld wurde die Verfahrensleitung durch den Richter Stefan Harbarth und seiner möglichen Befangenheit in den sozialen Netzwerken und Medien (SZ) in Teilen diskutiert. Das war durchaus ein Punkt, da er ja noch im Sommer 2018 als CDU-Bundestagsabgeordneter für die Sanktionen gestimmt hat. Schnell wurde ich eines besseren belehrt. Der Vorsitzende und der „hohe Senat“ waren mit acht Richtern besetzt. Schnell wurde deutlich, dass diese sich sehr gut vorbereitet hatten: Ihnen waren die einzelnen Stellungnahmen der Sachverständigen bekannt sowie die Verknüpfung der dazugehörigen Paragraphen im Sozialgesetzbuch II. Das hat mich wirklich beeindruckt. Die Sachverständigen mussten für einzelne Redebeiträge an einen Pult treten. Jede Sachverständigenaussage wurde, unabhängig eines Postens, gleichberechtigt wahrgenommen, respektiert und gewertet. Dass sich Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) kurzfristig „eingeladen“ hatte (auch die Sachverständigen wurden darüber erst kurzfristig telefonisch informiert) spielte keine Rolle. Nach der Vorstellung aller Teilnehmenden mit kurzen Statements, war im Verlauf deutlich zu merken, wie die Fragen und insbesondere die differenzierten Nachfragen der Richterinnen und Richter zunahmen. Das war durchaus beeindruckend. Dies betrafen unter anderem die gesetzliche Regelung im SGB II, die Abläufe in den Jobcentern und die Folgen aus den Sanktionen.
Die gute Vorbereitung der Sozialverbände
Die Befürworter des jetzigen Systems deklarierten die sog. Mitwirkungspflichten am Menschen selbst. Dieses wurde gleich zu Beginn beim Statement durch Ulrich Karpenstein (Vertretung Bundesregierung Kanzlei Redeker Sellner Dahs) deutlich, in dem er davon ausging, dass die Gewährleistung des Existenzminimums auch vom Menschen selbst abhängig ist. Hier wirke nicht nur der Staat mit. Es sei eine „Ausgestaltung des Grundrechts“, wenn das Sozialgesetzbuch II somit Pflichten vorsieht und bei Nichtbeachtung auch sanktioniere. Ein Eingriff in das Grundrecht sei es nicht. Somit ist die sanktionierte Person „selbst verschuldet“ in die Geldkürzung hineingeraten: „Die Mitwirkung an der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt sei eine Selbsthilfeobliegenheit“, so Karpenstein. Skurril wurde es, als die Verbindung zum Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (Menschenwürde) gegenübergestellt wurde. So erfolge der „Vorrang der Selbsthilfe“ aus nichts Geringerem als der Menschenwürde als Frage der „Achtung und Selbstachtung der Persönlichkeit“. Kurzes Schweigen auf der Richterbank und Kopfschütteln auf den Besucherplätzen. Geboren war die „Leistungsidee“. Die Berichterstatterin Susanne Baer fragte nach, ob er damit die Menschenwürde unter Abwägungsvorbehalt (sic!) stelle. Hinter der Menschenwürde stehe kein „Leistungsgedanke“. Diese komme jedem Menschen zu Gute, ob er was leiste oder nicht (sic!). Richterin Gabriele Britz fragte irritiert nach, ob es denn nicht ehrlicher wäre, gleich zu sagen, worum es gehe: Nämlich die Gemeinschaft zu entlasten. Sie merkte im Umkehrschluss an, dass der Bezug zum Artikel 1 GG als „eine Wohltat für den Bedürftigen, ihn am Ende zu sanktionieren“ nicht passend sei. Womit die Richter nun bei der Verhältnismäßigkeit waren und Richter Andreas Paulus die Frage stellte: Wo denn nun das „unerlässliche Minimum“, die „Grenze in der Grenze“ liege. Karpenstein antwortete knapp und bündig: „In der Verhältnismäßigkeit“. Dabei ergebe sich das Unterschreiten des Minimums aus den Normen selbst und müsse verhältnismäßig sein. Nun wollten die Richter noch mehr wissen und bohrten nach. Karpenstein machte dieses an ein Beispiel fest: „dass das Ziel der Integration in den Arbeitsmarkt, woraus sich auch die Untergrenzen, sozusagen das Minimal-Minimum ergebe, und man jemanden obdachlos macht, dann findet er erst recht keinen Job mehr. Das sei unverhältnismäßig.
Gerade der Beginn war mit Karpenstein durchaus spannend, da auch die Mahnung von Seiten des Gerichts kam, das man seit 2007 „schon einiges herausfinden können“ und beim SGB II operiere der Gesetzgeber „am offenen Herzen“: Es geht immerhin um das Existenzminimum. Hier würde man aber, insbesondere zu den höheren Sanktionen, keine belastbaren Zahlen hören. Das war deutlich.
Im Großen und Ganzen begleitete mich der Gedanke, dass die Sozialverbände bei den Fakten mit großem Abstand gezielter vorbereitet waren, als die Befürworter des jetzigen Systems. Hier blieb es mehrheitlich bei den allgemeinen Phrasen und dem Darstellungsversuch eines reibungslosen Ablaufes innerhalb des Systems. Je weiter die Stunden voranschritten, um so mehr war zu hören, dass das Reden am Pult durch die Befürworter kürzer und genervten wirkten.
Auf jede einzelne getätigte Aussage kann ich, des Umfangs wegen, hier nicht eingehen. Dazu eigenen sich hervorragend die Stellungnahmen der Sachverständigen, die davon nicht abgerückt sind. Diese sind bei Tacheles e.V. zu finden. Von der Bundesregierung, Jobcenter Vertretung sowie der Bundesagentur für Arbeit war die Welt in den Jobcentern rosarot. Mitarbeiter seien fachlich visiert, Sanktionen würden nur in Ausnahmefällen verhängt, Mitarbeiter der Jobcentern selbst nicht gerne sanktionieren und Sachleistungen selbstverständlich jederzeit ausgegeben werden. Auf Sachleistungen würde auch immer deutlich hingewiesen. Ein Wohnungsverlust ist nicht möglich, da es durch die Jobcenter zuvor Hilfe (z.B. Darlehen) gebe. Quoten, wie zum Beispiel für Zeitarbeit gebe es nicht. Während der Verhandlung habe ich immer wieder Rücksprache mit einer Jobcenter Teamleitung geführt, um diese Aussagen bestätigen zu lassen. In keinem Fall war das der Fall. Selbstverständlich gibt es Zahlen, auch in Zeitarbeit, die jährlich und monatlich zu erfüllen sind. Selbst wenn ich diese Aussage über die Jahre kenne, die Verdrängung der Realität für die Erwerbslosen in den Jobcentern mir bekannt sind, hat mich das doch erneut emotional sehr aufgeregt. Mein Eindruck war, dass sich das Gericht davon jedoch nicht beeindrucken ließ. Die andere Seite, in Form von Sozialverbänden, DGB und Tacheles e.V. orientierten sich stark an erlebten Tatsachen, Berichten von Erwerbslosen, in Teilen an Studien sowie durch Tacheles e.V. an der zuvor von ihnen durchgeführten Online-Umfrage. Diese wurde dem Gericht, komplett mit persönlichen Anmerkungen von Jobcenter-Erlebnissen, übergeben. Auch, wenn klar war, dass diese Online-Umfrage nicht als repräsentativ eingestuft werden kann, hat das Gericht diese gewürdigt. Eine große Frage der RichterInnen war die Zahl der Sanktionen, die Dauer, die Häufigkeit und die Anzahl von Sachleistungen. Mit großer Erwartung war ich auf die Präsentation durch die Bundesagentur für Arbeit (als Urheber der Zahlen) gespannt. Weder die Bundesagentur für Arbeit, noch deren Denkfabrik IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der BA) waren in der Lage diese Zahlen zu präsentieren. Das ist ja auch nicht ganz so einfach. Wird von 440 Tausend gesprochen, sind das Erstsanktionierte. Wird von rund einer Million gesprochen, zeigt diese Zahl in der Statistik der BA nicht an, wie oft die ein und selbe Person sanktioniert wurde. Dazu hatte ich mir mal aufgrund einer Anfrage durch den Sozialstammtisch Hartz IV DIE LINKE. Lüneburg und die mündlichen Antworten im Sozialausschuss folgende Zahl (2018) notiert: Demnach lag die bundesweite Sanktionsquote bei 18,9 Prozent.
Dass die „Sanktionen kein prägendes Element seien“, so der Deutsche Städtetag zeigte mir auf, dass es nicht verstanden wurde, das auch jede einzelne Sanktion ein Existenzminimum gefährde. Der Blickwinkel, dass neben dem direkt Betroffenen, auch bei einer möglichen Bedarfsgemeinschaft (Familie) trifft, war wenig zu hören. Ins ähnlich Horn blies der Deutsche Landkreistag, wenn der er meint: „Im Vordergrund stehen nicht die Sanktionen, sondern die Unterstützung aus dem Hilfesystem zu kommen. Vollsanktionen kommen nur gering vor“.
Der DGB merkte an, das Sanktionen als legitimes Ziel den Aufbau von Druck verfolge. Es führe zu einem gewünschten Wohlverhalten der Erwerbslosen durch die Jobcenter und lehnte die Sanktionen ab.
Ein Einlenken, oder besser die Einsicht, kam zu Ende von der Bundesagentur für Arbeit (Scheele), dass die höheren Sanktionen das Verfahren nicht überleben werden. Auf die Vollsanktion und die Kürzung der Mietkosten kann aus seiner Sicht verzichtet werden. Wirke der Betroffene wieder mit, so sei es auch denkbar, die Sanktionen vorher enden zu lassen.
Stimmig war ich bei der Aussage durch Scheele und der Bundesregierung von einem eigenen Ermessen durch die Jobcenter abzurücken. Allerdings war deren Meinung mehr in die Richtung, dass der bürokratische Prüfaufwand und die Verantwortung dessen für die Mitarbeiter in den Jobcentern zu hoch seien.
Eine Änderung wird es nach meiner Ansicht geben und ich hatte den Eindruck, dass das Gericht in der Zukunft ausführlich darüber beraten wird. Ob nun die Höhe der Sanktionen, das Ende der Möglichkeit die Miete komplett zu streichen oder die Dauer sein wird, ist schwer einzuschätzen. Dass es ein bundespolitisches Thema und eine Entscheidung ist, dürfte ebenfalls klar sein. Allerdings fehlt mir hier bis heute die eindeutige Aussage von der SPD etwas ändern zu wollen. Wenn Nahles „ein wenig Einsicht“ zeigt, Heil an Sanktionen festhält und nur ein wenig reformieren möchte ist damit nicht viel gewonnen. Aber das ist ein neues Thema.
Deutlich wurde, dass von zwei Welten gesprochen wurde: Die rosarote Welt in den Jobcentern und Abschwächung der Realität für die Betroffenen durch die Bundesregierung, der Bundesagentur für Arbeit und des Deutschen Städtetags und die andere Welt, unterlegt mit Fakten, der Betroffenen durch Tacheles e.V. und den Sozialverbänden. Mensch ist nicht gleich Mensch. Als weitere Alternativen wurden im Verlauf weiterhin diskutiert:
- Keine Vollsanktionen mehr
- Sanktionsräume kürzen
- Sanktionen nach Ermessen
- Keine Kürzung der Mietkosten
- Sanktionen ganz abschaffen
- Gutscheine statt Sanktionen
- Keine Kürzungen bei psychischen Erkrankungen
- Abgemilderte Sanktionen
- Beendigung Sanktionen bei nachgewiesener Mitwirkungspflicht
Ich bedanke mich bei allen Akteuren vor Ort, für die fabelhafte Vorbereitung der Sozialverbände und Tacheles e.V. sowie beim Sozialgericht Gotha, welches das Verfahren überhaupt erst möglich gemacht hat. Die Anhörung endete um 19 Uhr. Ich selbst reiste um 18 Uhr mit dem Zug wieder zurück.
Kleine Auswahl an weitere Quellen:
Dossier via „LabourNet Germany“
„Darum geht es im Sanktionsprozess“ – neues deutschland
„Gesetz der Angst“ – Junge Welt
„Obdachlos wegen Sanktionen“ – taz
„Hartz IV im Verfassungscheck“ Prof. Dr. Stefan Sell beim SWR
„Frage der Woche“ – Ist Hartz IV verfassungswidrig? – Finanzen.de
„Richter prüfen Strafen“ – Frankfurter Rundschau
„Bundesregierung verteidigt Hartz IV Sanktionen“ – Spiegel online
„Das Minus zum Minimum“ – verfassungsblog.de